21.12.2020
Technologietransfer und Materialforschung sind entscheidend, um die Gesundheit der Menschen zu stärken, die Krankenversorgung zu verbessern und das medizinische Fachpersonal zu entlasten. Oberösterreich ist ganz vorne mit dabei, wenn es um Innovationen geht.
Das weiße Hemd wechselt plötzlich in den Ampelmodus: Bei Gelb ist es sinnvoll, ärztlichen Rat einzuholen, bei Rot macht sich der Rettungshubschrauber auf den Weg. Die Genauigkeit von Sensoren in den Alltagsgegenständen führen zu einer Vielzahl von neuen Möglichkeiten der Eigendiagnose. So können seit einigen Jahren Handys und Wearables durch die Verwendung grüner LEDs und Photodioden den Puls und die Sauerstoffsättigung messen, da Oxyhämoglobin das Licht anders absorbiert als Desoxyhämoglobin. Die Entwicklung zur Messung von Hypertonie und Herzrhythmusstörungen zeigt die Richtung der Zukunft deutlich. Alleine mit den in den Smartphones verbauten Sensoren kann eine Vielzahl an Indikatoren gemessen werden.
So kann das Mikrofon benutzt werden, um die Lungenfunktion zu überprüfen, indem Nebengeräusche mittels Künstlicher Intelligenz analysiert und zugeordnet werden. Es gibt Anwendungen, bei denen mit einer Kamera Krankheiten wie Gelbsucht, Gehirnerschütterung und Krebserkrankungen automatisch erkannt werden. Sogar Osteoporose kann von Beschleunigungssensoren diagnostiziert werden.
Es ist kein großes Geheimnis, dass die Digitalisierung in der Medizin großes Entwicklungs- und Ausbaupotenzial für das Gesundheitssystem hat. Modernste Technologien haben sich in den vergangenen Jahren vor allem in der Diagnostik etabliert. Mit der digitalen bildgestützten Navigation entstehen erste medizintechnische Systeme zur Unterstützung von Behandlungen. Neue Therapieansätze wirken über akustische, optische und virtuelle Reize direkt auf die Patienten, wie die softwaregestützte Sehschulung via Bildschirm. Standardisierte digitale Patienten- und Behandlungsdaten spielen bei der Therapie eine große Rolle. Elektronische Krankenakten wie ELGA ermöglichen eine effektive, individuelle Nachsorge und dienen auch zur Fehlervermeidung wie der Überdosierung von Arzneimitteln. Telemedizinische Lösungen sind geeignete Schnittstellen für eine fachübergreifende Kommunikation und einen effizienten Informationsfluss zwischen Ärzten, Patienten und Therapeuten. Letztlich bieten digitale Versorgungsketten auch der Medizintechnikbranche die Chance, Entwicklung und Produktion stärker als bisher auf digitale Prozess- oder Fertigungsketten umzustellen. In der computergestützten Fertigung von individuellen Zahnimplantaten ist dieser Ansatz erfolgreich realisiert.
Die genannten Bespiele zeigen deutlich, wohin die Reise geht. Durch die Digitalisierung eröffnen sich im Gesundheitssektor neue Perspektiven für die Erforschung, Versorgung, Prävention, Diagnose und Behandlung von Krankheiten. Kunststoff- und Medizintechnik gehören zu den Stärkefeldern Oberösterreichs. Das immer komplexere Zusammenspiel verschiedener Sparten und Forschungseinrichtungen erfordert auch den Blick über den Tellerrand. Hier kommt Südböhmen als kongenialer Partner ins Spiel. In beiden Regionen gibt es in den Bereichen Nanotechnologie, Biosensoren und Additive Fertigung Experten in Forschung, Wirtschaft und bei Start-ups. Das Ziel des Projekts NABIAM ist der Aufbau eines transantionalen Netzwerks und der Aufbau von Kooperationen. Dabei geht es nicht so sehr um Austausch von Technologie sondern um die Zusammenarbeit. Nanotechnologie, Biosensoren und Additive Fertigung spielen bereits eine Rolle in der Medizintechnik. NABIAM will das weiter intensivieren. Die Idee zum Projekt hatte die Steyrer Innovations- und Forschungsschmiede Profactor GmbH. „Wir haben sowohl in Oberösterreich als auch in Südböhmen exzellente Forscher und Technologien von internationalem Rang. Aufgrund der Sprachbarriere arbeiten wir bislang kaum zusammen. NABIAM wird uns helfen, Synergien zu nutzen, um gemeinsam höhere Schlagkraft und Sichtbarkeit zu erzielen“, sagt Andreas Pichler, Forschungs- und Entwicklungsleiter bei Profactor.
Mit dem Wirtschafts- und Forschungsprogramm #upperVISION2030 hat Oberösterreich die Weichen gestellt. Im Kunststoffbereich, der für die Medizin unverzichtbar wurde, ist Kreislaufwirtschaft das Gebot der Stunde – womit sich der Kreis zu Materialien wieder schließt. Prozesse zur Rekonstruktion von Körperteilen können künftig mit dem 3D-Drucker kostengünstig und maßgeschneidert produziert werden. MEDUSA, das Leitprojekt Medizintechnik der Initiative „MED UP – Medical Upper Austria“, geht noch einen Schritt weiter. Chirurgen können den künstlich gefertigten Schädel eines Patienten haptisch fühlen und innere, ansonsten nicht sichtbare anatomische Strukturen in Form von virtuell erzeugten Hologrammen sehen. „Operative Eingriffe am Gehirn sind äußerst schwierig und oft nur mit Hilfe von Hochtechnologie sowie außergewöhnlichen kognitiven und motorischen Fähigkeiten von Neurochirurgen möglich. MEDUSA wird helfen, dass Ärzte das Know-how trainieren können“, betont Dr. Michael Giretzlehner, Leitung Forschungsabteilung Medizin-Informatik der RISC Software GmbH. MEDUSA ist ein Zusammenspiel zahlreicher Unternehmen, Forschungseinrichtungen und dem Neuromed Campus des Kepler Uniklinikums.
Bei Forschung ist es auch wichtig, international Flagge zu zeigen: „AI for Human Support – Innovative Systeme zur Unterstützung des Menschen“, heißt die Session, die der Medizintechnik-Cluster mit dem Mechatronik-Cluster und der Abteilung Human Capital Management sowie Partnern aus Wirtschaft und Wissenschaft beim OÖ Zukunftsforum am 24. März 2021 organisiert.
Dr. Christoph Burgstaller, Geschäftsführer des außeruniversitären Kunststoff-Forschungsinstitutes Transfercenter für Kunststofftechnik (TCKT) in Wels und Leiter des Projekts Circumat, ist einer der Vordenker im Land. Im Interview geht Burgstaller auf die Probleme und Zukunftsperspektiven ein.
Wo sehen Sie die wichtigsten Schnittmengen zwischen Werkstofftechnik und der Medizin? Wie ist Oberösterreich in diesem Forschungssegment aufgestellt?
Burgstaller: In der Medizintechnik haben wir es mit einer Fülle an Werkstoffen mit unterschiedlichsten Anforderungsprofilen zu tun. Das reicht von einfachen Verpackungen bis hin zu Hightech-Produkten in der Intensivmedizin. Wir haben Unternehmen, die mit ihren Produkten zu den Weltmarktführern zählen und auch einige innovative Firmen sowie erstklassige und international vernetzte Forschungsprojekte. Die Medizin entwickelt sich ständig und mit hohem Tempo weiter – hier liegt es an Forschung und Entwicklung, neue Produkte zur Verfügung zu stellen.
Wo hat Medizintechnik Handlungsbedarf?
Burgstaller: Ein Beispiel ist die Vereinfachung von Diagnostik. Ich denke dabei nicht nur an die digitale Technologie bei Untersuchungen und Datenanalysen im Labor, sondern beispielsweise an Sensorik: Textilien, die mit Sensoren Krankheitsbilder wie Bluthochdruck und motorische Störungen anzeigen können oder bei einem drohenden Anfall einen Alarm auslösen können. Und wir alle kennen den Doktor bei Raumschiff Enterprise, der den Patienten scannt und sofort eine Diagnose erstellen kann. Das ist zwar ein wenig weit hergeholt, aber verdeutlicht unsere Intention. Es geht um Forschung, bei der wir in manchen Bereichen schon sehr weit sind und um Fertigungstechniken von solchen Produkten.
Internationale Zusammenarbeit: Können Sie ein aktuelles Beispiel nennen?
Burgstaller: Die Haltbarkeit von Medizinprodukten ist ein wichtiges Thema: Hier arbeiten wir bei der Materialentwicklung mit Instituten in Trondheim in Norwegen und Stockholm in Schweden zusammen. Auch das Thema Kreislaufwirtschaft spielt in der Medizintechnik eine wichtige Rolle. Unser Ziel ist, aus Werkstoffen wieder echte Wertstoffe zu machen. Während das Beispiel der Verpackungen zeigt, dass dies schon angedacht werden kann, ist es bei anderen Medizinprodukten nicht so einfach. Sie müssen haltbar und steril sein und eignen sich nicht immer zur Wiederverwertung – denken wir dabei an Infusionsschläuche, Katheter oder Kanülen. Da muss sogar im Körper getestet werden, um die Weiterentwicklung voranzutreiben. In der Forschungskooperation kümmern wir uns um die Ermittlung der mechanischen Eigenschaften.
Welchen Stellenwert hat die Künstliche Intelligenz? Wie sieht es mit künstlichen Ersatzteilen für den Menschen aus?
Burgstaller: Menschliches Wissen, Erfahrung und Intuition können nicht ersetzt werden. Der Einsatz von Künstlicher Intelligenz ist aber in der Anamnese – sprich Datenaufnahme – wichtig. Bei Implantaten haben wir schon seit Jahrzehnten ein großes Repertoire, wenn wir an Gelenksersatz für Knie oder Hüfte denken. Exoskelette sind eine Entwicklung, die enormes Potenzial hat, um die Lebensqualität oder Beweglichkeit von Menschen zu erhalten.
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