23.11.2016
Die Sicherung der EU-Außengrenzen bezeichnete Außenminister Sebastian Kurz am 16.11.2016 bei der Veranstaltungsreihe „Minister im Dialog“ im RaiffeisenForum der Raiffeisenlandesbank OÖ als die vordringlichste Aufgabe in Europa. Wenn es gelinge, Menschen, die in Griechenland oder Italien ankommen, nicht mehr automatisch weiterreisen zu lassen, sondern auf Lesbos oder Lampedusa zu versorgen, bis sie wieder zurückgehen, wären damit auch die innereuropäischen Grenzkontrollen beendet. „Schuld an den Grenzkontrollen innerhalb Europas sind die, die gesagt haben ‚Wir schaffen das‘“, fand Kurz vor mehr als 1.300 Kundinnen und Kunden von Raiffeisen OÖ im bis auf den letzten Platz gefüllten Veranstaltungszentrum und jenen 550 Interessierten, die via Online-Übertragung mit dabei waren, deutliche Worte. Klar Stellung bezog Kurz in seinem Vortrag sowie in der Diskussion mit IV OÖ-Präsident Axel Greiner und RLB OÖ-Generaldirektor Heinrich Schaller auch bei anderen Themen, beispielsweise in der Türkei-Frage. „Ich sehe diese Türkei definitiv nicht in der EU“, sagte der Minister.
Selten so wenig Veränderungskraft
Zu Jahresbeginn 2016 hat niemand damit gerechnet, dass mit Großbritannien eine der größten Volkswirtschaften aus der EU austreten und der neue US-Präsident Donald Trump heißen wird. Zudem bestehen rund um Europa auch weiterhin zahlreiche Konfliktherde und die damit im Zusammenhang stehende Flüchtlingsproblematik harrt einer Lösung. „Innerhalb der EU ist das Bedürfnis spürbar, es muss sich alles ändern. Aber es gab selten eine Phase, in der so wenig Veränderungskraft da war, wie heute“, so die Analyse des Außenministers.
Lösung für brennende Fragen
Es gebe in Europa viele Rufe nach Reformen, jedoch in völlig unterschiedliche Richtungen. „Obwohl ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin, bin ich der Meinung, dass wir realistisch sein und nur jene Projekte angehen sollten, die wir auch stemmen können“, betonte Kurz. Eine große Reform hält er derzeit nicht für möglich. Probleme sollten schrittweise angegangen und Lösungen in den brennenden Fragen, die die Menschen auch beschäftigen, gefunden werden. Der Außenminister sprach sich für eine klare Kompetenzverteilung und ein subsidiäres Europa aus. In vielen Fragen könnten Nationalstaaten und Regionen sehr gut Entscheidungen für sich treffen. In den großen Fragen wie beim Außengrenzschutz brauche es dagegen mehr Tiefe und mehr gemeinsame Stärke.
Politik, die Konsequenzen nicht bedacht hat
Das letzte Jahr sei von einer Politik geprägt gewesen, die die Konsequenzen nicht bedacht habe. „Vieles war gut gemeint, aber im Ergebnis nicht gut gemacht. Es sind nicht weniger Menschen im Mittelmeer ertrunken, sondern mehr. Wir selbst haben ausgelöst, dass sich viele Menschen auf den Weg gemacht haben. Viele haben sich auch ein Stück weit eingeladen gefühlt.“
Migration: Zu einer klaren Politik übergehen
Sebastian Kurz glaubt an eine Lösung der Migrationsfrage. Dazu brauche es einen funktionierenden Außengrenzschutz. „Wir müssen zu einer klaren Politik übergehen und den Menschen sagen: Wer sich illegal auf den Weg nach Europa macht, hat keine Chance, nach Mitteleuropa durchzukommen. Dann werden viel weniger Menschen kommen und wir können endlich das Ertrinken im Mittelmeer beenden.“ Gleichzeitig könnten die Ärmsten mit Resettlement-Programmen unterstützt werden. Mit den Milliarden, die das Asylsystem in Europa kostet, könnte wesentlich mehr Menschen in ihrer Heimat geholfen werden, meinte Kurz.
„Sehe Türkei nicht in der EU“
Geradezu fahrlässig sei es, sich beim Außengrenzschutz auf die Türkei und deren Präsident Erdogan zu verlassen. „Was in diesem Land vorgeht, wird von vielen aus Angst, die Türkei könnte den Flüchtlingsdeal aufkündigen, gar nicht kritisiert.“ Kurz zweifelt daran, dass diese Vereinbarung seitens der Türkei noch lange eingehalten wird. Auch aus europäischer Sicht sei es absurd, die mit diesem Deal verknüpften Bedingungen zu erfüllen, betonte Kurz. Für die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ist ein gemeinsamer Beschluss aller Außenminister notwendig. Dem werde er sicherlich nicht zustimmen, denn „Die Türkei gibt uns jeden Tag neue Argumente, dass diese harte Linie notwendig ist. Ich sehe diese Türkei definitiv nicht in der EU.“
Sorgen der Österreicher verständlich
Was Österreich betrifft, werde oft so getan, es sei alles gut. „Ich kann die Floskel in der Politik, dass wir besser durch die Krise gekommen sind, schon nicht mehr hören. Die Menschen spüren zu Recht, dass Österreich im internationalen Vergleich zwar noch recht ansehnlich, aber nicht gerade auf der Überholspur ist. Dass da die Sorge entsteht, dass Freihandel eher zum Vorteil der anderen sein könnte, ist für mich menschlich total verständlich.“ Bei Freihandelsabkommen wie TTIP oder CETA müsse man Vor- und Nachteile analysieren und dann transparent entscheiden. Kurz: „Aber wenn wir nicht wieder aufholen und wieder wettbewerbsfähiger werden, wird die Angst vor Freihandel immer größer werden.“
Trump-Wahl: Nicht großspurig reagieren
Zum Ausgang der Präsidentschaftswahl in den USA meinte der Außenminister: „Jeder hat seine persönliche Meinung. Aber wir sollten als Europa jetzt nicht den Fehler machen, allzu großspurig darauf zu reagieren.“ Die US-Bevölkerung entscheide selbst, wer ihr Präsident sein soll. „Wir haben ein Interesse an der Zusammenarbeit, unabhängig, wie der Präsident heißt. Das werden wir auch so anstreben.“
Greiner: USA sind vom Welthandel abhängig
Wahlkampf und Regieren sind vor allem in den USA zwei unterschiedliche Dinge, sah auch IV OÖ-Präsident Axel Greiner die Wahl Trumps zum Präsidenten eher gelassen: „Es bleibt abzuwarten, was der neue amerikanische Präsident nun tatsächlich umsetzen kann. Schließlich ist die amerikanische Wirtschaft auch vom Welthandel abhängig. Daher wird Trump Freihandelsabkommen nicht so einfach wieder aufschnüren können.“ Auch die angekündigte Rückführung von Produktionsstätten in die USA sei nicht so einfach umzusetzen: „Die Arbeitsteilung ist in unserer Welt durch die Globalisierung sehr stark ausgeprägt. Da müssen erst einmal eine Reihe von Voraussetzungen geschaffen werden, damit Strukturen für die Produktion aufgebaut werden können.“
Klare Kompetenzverteilung und Transparenz sind wichtig
In Richtung EU und Freihandelsabkommen mahnte Greiner zu einer klareren Kompetenzverteilung und verstärkter Transparenz, die für die Bürger nachvollziehbar sind. Zurzeit sei oft das Gegenteil der Fall: „Das oftmals in der Allgemeinheit verbreitete Gefühl der unklaren Strukturen in der EU ist schlecht. Für Bürger muss klar sein, wer was entscheidet und über welche Vertreter sie auch mitentscheiden können. Nur Transparenz schafft auch Vertrauen.“
Schließung der Binnengrenzen schadet der Wirtschaft
Sehr kritisch sieht Greiner die Einschränkungen am europäischen Binnenmarkt: „Die Industrie hat ein großes Interesse an einem geeinten und starken Europa mit einem ordentlichen Wirtschaftsraum, der weiter ausgebaut werden muss. Die EU lebt von einem offenen Binnenmarkt - daran müssen wir unbedingt festhalten. Das Schließen der Binnengrenzen aufgrund der Flüchtlingskrise schadet der Wirtschaft und kostet Geld, was dann den Unternehmen woanders fehlt.“ Mit den Sanktionen gegen Russland sei vor allem sehr viel Vertrauen zerstört worden, das die österreichischen Unternehmen über Jahre aufgebaut haben. „Wirtschaft und Handel verbinden die Menschen. Sanktionen treiben Regierungen eventuell auch in eine gewisse Richtung, wo dann die Gefahr der Radikalisierung groß ist.“
Schaller: Keine Katastrophe aufgrund US-Wahl erkennbar
Auch wenn die Aktienmärkte kurzfristig nach der US-Wahl eingebrochen sind, ist für RLB OÖ-Generaldirektor Heinrich Schaller keine Katastrophe erkennbar: „Das aktuelle Verhalten der Märkte ist ein Zeichen für große Nervosität und Unsicherheit. Die Börsen haben sich nach einem kurzen Schock wieder beruhigt. Das ist typisch. Wenn die Märkte erkannt haben, in welche Richtung der neue US-Präsident steuert, kehrt wieder Normalität ein. Aber das wird ein paar Monate dauern.“ Trump könnte durchaus auch positive wirtschaftliche Impulse auslösen, die in weiterer Folge auch in Europa spürbar sein könnten. „Wenn umfangreiche Infrastrukturprojekte umgesetzt werden, die in den USA absolut notwendig sind, kann das einen Boom auslösen, auch für Europa.“
Informationspolitik bei Freihandelsabkommen muss besser werden
Dass gerade Österreich als exportorientiertes Land von Freihandelsabkommen sehr stark profitiere, steht laut Schaller außer Frage. Aber: „Die Informationspolitik bei den Verhandlungen ist sicherlich falsch gelaufen. Die Menschen sollten besser informiert werden. Inhaltlich dürfen Abkommen wie CETA oder TTIP nicht von weltweit agierenden Konzernen dominiert werden. Weiters muss auf die Gegebenheiten in den einzelnen Ländern Rücksicht genommen werden.“
Wir verwalten uns zu Tode
Scharfe Worte fand Schaller beim Thema Kompetenzverteilung. Eine klarere und einfachere Kompetenzverteilung sei für die gesamte Wirtschaft wichtig. „Wir verwalten uns mit so einem System zu Tode. Da wird den Unternehmen und damit der gesamten Volkswirtschaft vieles erschwert.“
Sanktionen gegen Russland sollen beendet werden
„Viele österreichische und oberösterreichische Unternehmen sind in Russland tätig und aufgrund der Sanktionen natürlich sehr eingeschränkt. Ich hoffe hier sehr stark auf Normalisierung und dass diese Sanktionen wieder beseitigt werden“, so Schaller, der gleichzeitig zu bedenken gibt, dass sich Europa manchmal zu sehr auf die USA verlassen habe.